Mutanten

Mutanten sind meistens nicht so spektakulär wie Spiderman oder der Hulk. Sie sind viel gewöhnlicher.
Jeder Mensch hat ca. 30 bis 60 neue Mutationen, die meist unauffällig sind. Viele Mutationen sind aber auch tödlich. Beim Menschen vermutet man, dass 50% der befruchteten Eizellen oder der sehr frühen Embryonen von der Mutter unbemerkt abgehen, weil sie nicht lebensfähig sind.

Bei Pflanzen ist das mit den Mutationen nicht viel anders. In den Körnern eines Weizenfeldes von einem Hektar ist, statistisch betrachtet, jede Position im Genom einmal mutiert – und das Weizengenom ist sehr groß!

Wenn nicht natürlich oder künstlich selektiert wird, spielen diese Mutationen keine große Rolle. Aber sie sind da und wir essen unentwegt Mutanten!
Die Wahrscheinlichkeit für einen bissigen Kürbissen mit vier Augen, Killertomaten und Zombieweizen ist aber sehr gering!

Ein bissiger Kürbis mit vier Augen kann nicht absolut ausgeschlossen werden, er ist aber sehr, sehr unwahrscheinlich!

Was kann bei Zucht und Kreuzung passieren?

Wenn man aber auf bestimmte Eigenschaften züchtet und auswählt, kann man unbemerkt weitere Eigenschaften mitschleppen. Man achtet z.B. auf große, saftige Früchte und stellt erst viel später fest, dass mit der Auswahl auch die Abwehrkräfte gegen Blattläuse abgenommen haben. Das liegt daran, dass Gene, die nahe zusammenliegen, meistens als „ein Paket“ vererbt werden. Wenn man das unerwünschte Gen für kleine, trockene Früchte rauswirft und gleich daneben liegt das für Blattlausresistenz, wird man bei der Zucht sehr leicht beide gleichzeitig rauswerfen, wenn man auf große saftige Früchte selektiert! Das die Früchte besser sind, sieht man sofort, dass die natürliche Resistenz weg ist, merkt am erst, wenn die Blattläuse kommen!

Was ist natürlich?

„Natürlich“ sind unsere Nutzpflanzen alle nicht: eine kernlose Melone oder Weintraube hätte in „freier Wildbahn“ keine Chance: sie kann sich nicht über Samen vermehren.
Aber für uns sind sie sind nützlich: Tomaten mit weniger Solanin sind weniger giftig als ihre natürlichen Vorfahren und deshalb gefahrlos essbar – allerdings auch für Käfer und Raupen! Eine 3kg-Melone hat deutlich mehr Nährstoffe als ihre Ahnen mit 30mm Durchmesser. Und wer möchte gerne eine natürliche Banane essen, die zu 50% aus harten Kernen besteht?

Woher kommen Mutationen?

Mutationen treten immer und überall auf. Ganz grob kann man drei verschiedene Mutationsquellen nennen:

  1. Fehlerhafte Vervielfältigung der DNA. Die meisten Kopierenzyme (DNA-Polymerasen) arbeiten ziemlich genau. Hinzu kommt noch das Korrekturlesen (Proofreading) durch Enzyme, die Fehler entdecken und korrigieren. Trotzdem entstehen immer wieder Fehler. Das menschliche Genom von 3 Mrd. „Buchstaben“ (Basenpaaren) korrekt abzuschreiben, ist eine gewaltige Herausforderung. Ein Mensch besteht aus etwa 30 Billionen Zellen und für jede Zelle muss das Genom kopiert werden. Man wundert sich eher, dass es nicht mehr Fehler (Mutationen) gibt!
  2. Umwelteinflüsse. Unsere Umwelt ist gefährlich! Sonnenstrahlung verursacht ebenso Mutationen wie radioaktive Strahlung (die auch natürlich vorkommt). Zudem sind alle Lebewesen ständig Zellgiften ausgeliefert, die ihrer Ursprung in Pflanzen und Tieren haben. Zellgifte in Form von Umweltverschmutzung, die wir selbst „erfunden“ haben, kommen noch dazu. Viele davon lösen Mutationen aus.
  3. Gentransfer zwischen verschiedenen Organismen. Das ist sehr selten – man findet aber immer mehr davon! Bakterien und Viren können Teile ihres Genoms in Pflanzen und Tiere übertragen, Pflanzen und Pilze können bei engem Kontakt Gene austauschen und vieles mehr. Dieser „horizontale Gentransfer“ ist eine besondere Art der Mutation, bei der artfremde Gene von einem Genom ins andere geschoben werden.

Das alles voller Mutationen steckt, konnte man 2005, nach der vollständigen Sequenzierung des Reis Genoms zeigen.

Züchtung der Reissorte IR64. Das Schema wurde von Prof. Ingo Potrykus zusammengestellt.

Das Bild zeigt die langwierigen, mühsamen Kreuzungen zu einer der erfolgreichsten Reissorten IR 64. Die @-Zeichen markieren jeweils eine Kreuzung. Der hellblaue Hintergrund der farbigen Blöcke zeigt das „ursprüngliche“ Reis Genom. Das bedeutet hier aber schon eine Ausgangssorte, die vor mehr als 8.000 Jahren domestiziert wurde und seitdem der Zuchtwahl unterliegt – auch die hatte nur noch wenig mit dem wirklich wilden Reis zu tun.
Die farbigen Markierungen auf dem hellblauem Hintergrund zeigen Mutationen an, die an vier Stellen des Zuchtprozesses gefunden wurden:


gelb sind kleinere Mutationen von wenigen Basenpaaren, sie können Gene oder ihre Regulation verändern,
dunkel blau sind Translokationen, d.h. größere Umlagerungen innerhalb des Genoms, dabei können mehrere Gene unterbrochen oder unter eine neue Regulation gestellt werden, sie können die Zellteilung stören,
orange sind Inversionen, das sind Umlagerungen innerhalb eines Chromosoms, sie können Gene unterbrechen oder die Genregulation verändern,
lila sind Rekombinationen, d.h. Austausche (meistens) mit dem zweiten Chromosom. Dadurch können Gene oder ihre Regulation verändert werden.
weiß-blau sind Deletionen. Hier wurden Teile eines Chromosoms vollständig verloren. Dabei verschwinden Gene oder regulatorische Regionen ganz oder teilweise.

Wie betreibt man Zuchtwahl und was kann dabei passieren?

Mutationen sind nicht sehr häufig. Eine gewünschte Mutation ist sehr selten. Deshalb wurde im Züchtungsprozesse die Zahl der Mutationen durch radioaktive Bestrahlung oder den Einsatz von Zellgiften gewaltig erhöht. Das war völlig ungezielt. Es ist etwa vergleichbar mit dem Versuch, 1000 Taschenuhren mit einem Hammer zu bearbeiten und dann zu schauen, ob eine von ihnen danach genauer geht. Das erscheint uns sehr unwahrscheinlich – aber es funktioniert. Die meisten Uhren (Pflanzen) sind kaputt, aber ein oder zwei haben eine neue, gewünschte Eigenschaft.

Durch die Hammerschläge (Mutagenese) werden viele Gene verändert. Die allermeisten haben nichts mit der Eigenschaft zu tun, die man sich wünschte, man weiss nicht einmal etwas von ihnen (weil man nicht danach gesucht hat). Und man hat keine Ahnung, welche versteckten Auswirkungen sie haben, schon gar nicht, welchen Effekte die Kombination dieser vielen Mutationen hat. Sie sind unbemerkte „Kollateralschäden“ die in dem langen Kreuzungsprozess mitgeschleppt und erst viel später entdeckt wurden.

Das macht den IR 64 Reis nun nicht zu einer unberechenbaren Zeitbombe. Er wird seit vielen Jahren angebaut und die Erfahrung aus diesen Jahren zeigt, dass er keine offensichtlichen Schäden anrichtet – im Gegenteil, er ist ertragreich und liefert Nahrung. Zu 100% ausschließen kann man negative Auswirkungen jedoch nicht.

Es ist jedoch bemerkenswert, dass viele diese genetischen Veränderungen pauschal für natürlich und ungefährlich erklären, selbst dann, wenn man sie überhaupt noch nicht kennt.

Sobald jedoch ähnliche genetischen Veränderungen recht zielgenau technisch vorgenommen werden und akribisch nach eventuellen „Kollateralschäden“ gesucht wird, spricht man von „verantwortungsloser Gentechnik“ und „völlig unkalkulierbaren Risiken“. Und: Gentechnik stellt eine Gefahr dar, weil sie „nicht rückholbar“ ist. Das sind „natürliche“ Mutationen auch nicht.

Eine natürliche Zufallsmutation, die vermutlich ein ganzes Ökosystem gefährdet, ist erst vor einigen Jahren in einem deutschen Aquarium aufgetreten – wir werden das in einem unserer nächsten Blogartikel besprechen.

Autor: Wolfgang Nellen (w.nellen@biowisskomm.de)